Ein Augenzeugenbericht
Ich bin am Donnerstag, 23.5., gegen 13.30 Uhr, zum Sozialwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität gekommen, das tags zuvor von pro-palästinensischen Protestierenden besetzt worden war, um gegebenenfalls deeskalierend zu wirken, damit die Vereinbarung, die das Präsidium mit den Protestierenden getroffen hat, umgesetzt und die Besetzung um 18 Uhr friedlich beendet wird.
Das Institut war von außen von der Polizei abgesperrt; ein Zugang nur über den Nebeneingang Georgenstraße möglich mit Ausweiskontrolle durch die Polizei. Allerdings ließen die Protestierenden, die den Zugang von ihnen kontrollierten, zu diesem Zeitpunkt nur sehr wenige Studierende ein. Im Hof des Instituts (offen zur Georgenstraße hinter dem Zaun) wurden Statements verlesen und Slogans wie „Viva Palästina“ oder „Free, free Palestine“ gerufen.
Zur vereinbarten Diskussionsveranstaltung mit dem Präsidium und Professor:innen der HU, die um 15 Uhr im Institut beginnen sollte, wurde eine große Zahl von Studierenden eingelassen. Zusammen mit Rahel Jaeggi bekam ich selbst dazu ebenfalls Gelegenheit.
An diesem Nachmittag habe ich die Hass-Graffitis nicht gesehen und konnte deshalb später dazu auch nicht öffentlich Stellung nehmen. Aber ich will deutlich klarstellen: Ich verurteile jegliche antisemitische Hasspropaganda. Die Hass-Graffitis im ISW sind abscheulich und fordern zu Gewalt gegen Jüd:innen auf, auch gegen jüdische Studierende. Diese Graffitis müssen strafrechtlich geahndet werden.
Im Kontrast dazu war Versammlung, an der über hundert Studierende teilnahmen, friedlich, vor allem geprägt durch persönliche Statements von Studierenden. Die Präsidentin und Professor:innen antworteten, ohne dass sie unterbrochen oder verbal angegriffen wurden. Die Kommilitonin, die das Gespräch moderierte, war eindeutig um respektvollen Umgang miteinander bemüht. Woraus für mich als Konsequenz folgt: Straftäter verfolgen, mit dialogorientierten Studierenden diskutieren.
Die Atmosphäre im Hörsaal veränderte sich, als gegen 16.50 Uhr die Nachricht in den Hörsaal drang, dass die Polizei draußen vor dem Institut die Georgenstraße räumte. Diese Maßnahme war offenkundig der Präsidentin nicht vorher kommuniziert worden, die daraufhin zuerst telefonisch und persönlich vor dem Institut mit der Einsatzleitung der Polizei um Deeskalation verhandelte.
Mit der Räumung der Straße war das Verlassen des Instituts von nun an nur noch mit Einwilligung der Polizei, die mittlerweile in Kampfmontur aufmarschiert war, möglich. Auf Verlangen der Polizei musste der Nebeneingang geöffnet bleiben. An diese offene Schnittstelle zwischen Polizei und Studierenden habe ich mich hingestellt, und gemeinsam mit anderen Professor:innen konnten wir durch unsere Präsenz mehrere brenzlige Situationen, die durch das aggressive Verhalten von Polizisten entstanden waren, deeskalieren.
Nachdem die Präsidentin in ihren Verhandlungen mit der Einsatzleitung die Einigung erzielt hatte, dass die Studierenden, die die Versammlung besucht hatten, unter Begleitung von Professor:innen das Gebäude unbehelligt verlassen können, widerrief die Polizei diese Einigung wenig später und verlangte, dass von sämtlichen Personen, die das Gebäude verlassen, die Personalien aufgenommen werden. Die Präsidentin bemühte sich vergeblich um ein Einlenken der Polizeiführung. Diese Polizei-Maßnahme bedeutet für mich eine pauschale Kriminalisierung der Studierenden.
Erst gegen 18.30 Uhr konnte die erste Gruppe von Studierenden, begleitet von einem Mitglied des HU-Präsidiums, das Gebäude verlassen. Ich folgte mit einer zweiten Gruppe gegen 18.45 Uhr. Wir wurden in der Georgenstraße zu einem abgesperrten Bereich geführt und die Identifikationspapiere zur Erfassung eingesammelt. Um 19.20 Uhr erhielt ich meinen Personalausweis wieder und konnte die Absperrung verlassen.
Die Präsidentin hat das Möglichste getan, um die Situation zu deeskalieren; für die Eskalation hat die Polizei gesorgt, indem sie die Straße räumte und entgegen der vorherigen Einigung auf der Personenerfassung bestand. Dass nicht die Vereinbarung zwischen Präsidium und Protestierenden auf friedliche Beendigung der Besetzung bis 18 Uhr umgesetzt werden konnte, stattdessen offensichtlich der Berliner Senat in das Geschehen massiv eingriff, ist in meinen Augen ein schwerwiegender Eingriff in die Autonomie der Hochschule und eine bewusste Beeinträchtigung der Selbstregulierungskompetenz der Universität.
Hier auch die Presse-Erklärung der Humboldt-Universität zu den Vorgängen.