Volksjustiz

Wer wissen möchte, was geschieht, wenn das Volk Recht spricht, findet in dem Theaterstück „Terror“ von Ferdinand von Schirach, das am 17. Oktober mit großem Medienrummel im Ersten Deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde, ein anschauliches Beispiel. Darin geht es um ein fiktives Gerichtsverfahren gegen einen Kampfjetpiloten der Bundesluftwaffe, der – in einem fiktiven Fall – ein Passagierflugzeug mit 164 Passagieren abgeschossen hat, das von einem Terroristen in seine Gewalt gebracht worden war und offenbar auf ein Stadion gelenkt werden sollte, in dem sich rund 70.000 Menschen aufgehalten hatten. Dürfen 160 Menschenleben geopfert werden, um 70.000 Menschenleben zu retten?

Die mediale Wirkung des TV-Ereignisses gründet sich nicht zuletzt auf der Zahlenrelation. Es stand nicht die Alternative: 164 Menschenleben gegen 165 Menschenleben zur Debatte, was den konkreten Fall weniger dramatisch gemacht, aber das angesprochene Problem vom Grundsatz her keineswegs verändert hätte. Vor allem jedoch bestand das Besondere an der Inszenierung darin, dass die Zuschauer als Schöffenrichter fungierten und entscheiden konnten, ob der Pilot schuldig gesprochen werden soll oder nicht. Der erfahrene Jurist Schirach lässt Staatsanwältin und Verteidiger ihre Argumente entfalten: Unteilbarkeit der Menschenwürde gegen den Notstand des kleineren Übels. Und wie zu erwarten folgten die Zuschauer der Suggestion des Zahlenverhältnisses: lieber 164 tot als 70.000. 83 Prozent plädierten für unschuldig – und, so die Logik der TV-Stücks, entsprechend sprach der Richter den Piloten frei.

Was geht hier vor? Sind wir nicht mehr in der Lage, uns eine Situation vorzustellen, die wir tragisch nennen, weil, wie immer wir uns auch entscheiden, wir schuldig werden? Macht uns das „kleinere Übel“ unschuldig? Mehr noch, das Theaterstück hat einen realen Hintergrund, denn das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2006 das im Jahr zuvor verabschiedete Luftsicherheitsgesetz, für das sich der damalige Verteidigungsminister Jung eingesetzt hat und das eben einen solchen Abschuss einer Passagiermaschine im Terrorfall legitimierte, als verfassungswidrig kassiert: Menschenleben dürfe nicht gegen Menschenleben aufgerechnet werden. Und nun darf das Volk den obersten Richter spielen und seinerseits das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wenn auch nicht juristisch wirksam, so doch höchst öffentlichkeitswirksam widerrufen? Hebt die ARD wegen eines Quotenerfolgs die Gewaltenteilung auf? Wollen wir wirklich, dass nicht mehr das Recht gilt, sondern das „gesunde Volksempfinden“?

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